Der Löwe (Osho)
Es war einmal ein netter junger Löwe. Man hatte ihn im Afrikanischen Dschungel gefangen, nach Amerika gebracht und dort in einen Zoo gesteckt. Das machte den Löwen ganz unglücklich, er sehnte sich nach der Freiheit seiner wilden Heimat und nach der Gesellschaft der anderen Tiere des Dschungels. Aber nach einiger Zeit fügte er sich in sein Schicksal und nahm sich vor, dass er, wenn er sein Leben schon hinter Gittern zubringen müsste, wenigstens der beste aller Zoolöwen werden wollte.
Im Nachbarkäfig lebte ein anderer Löwe, der war alt und faul und verantwortungslos, ohne das geringste Zeichen von Ehrgeiz oder sonstigen Fähigkeiten. Er lag den ganzenTag in der Sonne und erregte keinerlei Interesse bei den Besuchem. Der junge Löwe dagegen schritt stundenlang in seinem Käfig auf und ab, führte sich auf wie ein echter König der Tiere, schüttelte seine Mähne, knurrte und fletschte die Zähne. Die Menge liebt ihn. Den alten, faulen Löwen, der im Nachbarkäfig schlief, beachteten sie gar nicht.
Der junge Löwe schätze die Aufmerksamkeit, die er bekam, aber er ärgerte sich darüber, dass es ihm nicht gelang, dafür angemessen belohnt zu werden. Jeden Nachmittag kam der Wärter und fütterte alle Tiere. Der faule, alte Löwe, der keinen Finger rührte, um den Zuschauern zu gefallen, bekam eine Riesenschüssel voll Pferdefleisch. Der junge Löwe, die erste Attraktion des Zoos, bekam eine Schüssel klein geschnittener Orangen, Bananen und Nüsse. Das machte ihn sehr unglücklich.
„Vielleicht“ so grübelte er, „gebe ich mir nicht genug Mühe. Ich werde meine Darbietungen verbessern“. So stolzierte er noch länger und noch auffälliger auf und ab. Zu seinem Knurren und Zähnefletschen brüllte er ab und zu, dass die Gitterstäbe des Käfigs zitterten. Die Menschenmenge vor seinem Käfig wurde grösser. Tausende Bürger kamen, um seinen Auftritt zu sehen, und er wurde auf der ersten Seite des Lokalblattes abgebildet. Doch an seinem Essen änderte sich nichts. Immer noch bekam der faule Löwe das gute, rote Fleisch, und der junge Löwe blieb auf vegetarischer Kost. Schliesslich hielt er es nicht mehr aus.
Er rief den Wärter: „Ich werde krank, mir reichts!“ klagte er. „JedenTag gibst du diesem faulen Taugenichts nebenan eine riesige Schüssel Fleisch, und mich fütterst du mit Orangen, Bananen und Nüssen. Das ist total unfair. Was denkst Du, wieso die vielen Leute in den Zoo kommen? Sie wollen mich sehen, ich bin die erste Attraktion, ich bin der Löwe, der die ganze Arbeit macht, und ich gehöre belohnt. Warum habe ich kein Anrecht auf Fleisch zu meinen Mahlzeiten?“ Der Wärter antwortete: „Junger Mann, du weißt gar nicht, was für ein Glück du hast, dass du überhaupt etwas zu essen bekommst. Im Etat dieses Zoos ist nur ein Löwe vorgesehen. Wir führen dich offiziell als Affen!“